Indien: Wirtschaftswachstum nach Corona

Wirtschaftliche Entwicklung in Indien: Chancen und Risiken für Unternehmen

An Indien kommt künftig keiner mehr vorbei: Die Bedeutung des Landes für die Weltwirtschaft nimmt dank eines florierenden Dienstleistungssektors und des starken Industriestandorts zu. Wie aber Peter Born, Chief Representative der Commerzbank in Mumbai, erklärt, ist der Weg zum Wohlstand für den Subkontinent noch steinig.

Indiens Wachstumsgeschichte der letzten Jahre ist durchaus beeindruckend: Mit einem nominalen BIP von 2,8 Billionen US-Dollar ist das südasiatische Land die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt, nach Kaufkraftparität sogar die drittgrößte.

Starker postpandemischer wirtschaftlicher Aufschwung in Indien erwartet

Die menschlichen und ökonomischen Kosten der COVID-19-Pandemie wiegen schwer, insbesondere seit dem Aufkommen der Delta-Variante im Frühjahr 2021. Doch scheint sich in Indien das Blatt zu wenden – 1,7 Milliarden Impfstoffdosen wurden im riesigen Vielvölkerstaat verteilt. Die meisten Konjunkturindikatoren – nicht zuletzt die Aktienmärkte, die Rekordstände erreicht haben – deuten auf einen Aufschwung hin. Ein komfortables Devisenpolster von 630 Milliarden US-Dollar (das viertgrößte weltweit) schützt das Land zudem vor weiteren externen Schocks.

Eben diese Kultur hat Unternehmen aus vielen Industrieländern unter anderem dazu veranlasst, Dienstleistungen nach Indien auszulagern. Allein Indiens IT-Sektor kommt auf einen Umsatz von 191 Milliarden US-Dollar und beschäftigt im ganzen Land mehr als vier Millionen Menschen.

Und nicht nur der Dienstleistungssektor findet außerhalb Indiens einen Markt: Das Land ist inzwischen der weltweit zweitgrößte Lieferant von Lebensmitteln und Agrarerzeugnissen, Kohle, Zement und Stahl sowie der drittgrößte Stromerzeuger der Welt.

Die Pandemie hat die wichtige Rolle, die Indien mittlerweile auf den globalen Märkten spielt, noch einmal unterstrichen. Schon davor war Indien der weltgrößte Hersteller generischer Arzneimittel. Im Kampf gegen das Coronavirus ist das Land der Hauptproduzent des AstraZeneca-Vakzins und des in Indien entwickelten Totimpfstoffs Covaxin und kann damit mehr als 50 Prozent der weltweiten Impfstoffnachfrage bedienen.

Investieren in Indien – nicht ohne Hürden

International aufgestellte Unternehmen kennen das Potenzial Indiens und suchen dort kontinuierlich nach Investitions- und Geschäftschancen. Doch es mag viele überraschen, dass Indien trotz seiner wirtschaftlichen Schlagkraft immer noch relativ schwach in die weltweiten Liefer- und Wertschöpfungsketten eingebunden ist. Das ist kein Zufall: Die handels- und industriepolitische Strategie des Landes bevorzugt nach wie vor den Binnenmarkt. Zudem mag das indische Geschäftsumfeld von Unternehmen als komplex und schwer zugänglich eingeschätzt werden, weshalb weniger ausländische Investitionen fließen.

Das ist kein neuer Trend, sondern hat in Indien Tradition: Importsubstitution, eine staatlich gelenkte Industrialisierung und eine höchst bürokratische, einst als „Licence Raj“ bekannte Regulierung standen der Integration Indiens in globale Wertschöpfungsketten immer im Weg.

Einige dieser Hürden bestehen auch heute noch, und indische Zölle sowie Steuern verhindern oft die Gründung von sogenannten Lead Firms – Unternehmen, die an allen Stationen der Wertschöpfungskette, von der Beschaffung bis zur Herstellung des Endprodukts, von zentraler Bedeutung sind. Auch die Wettbewerbsfähigkeit inländischer Kleinstunternehmen und KMUs ist durch dieses Umfeld eingeschränkt. Kleinere Unternehmen leiden am meisten unter den hohen Importzöllen: Sie sind dazu gezwungen, entweder im Ausland zu höheren Preisen oder teurere inländische Materialien einzukaufen. Sollen die Endprodukte dann exportiert werden sind sie dann weniger konkurrenzfähig.

Die fehlende Erfahrung mit internationalem Wettbewerb hat weitere Auswirkungen. Die indische Regierung weiß, dass die meisten Unternehmen mehr Zeit brauchen, um wettbewerbsfähiger zu werden. Unter anderem deshalb nimmt Indien nicht an Freihandelsabkommen wie der asiatisch-pazifischen RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership) teil. Die Öffnung des riesigen Binnenmarktes, ohne selbst wesentlich davon zu profitieren, ist keine attraktive Aussicht. Soll Indien also zum Drehkreuz globaler Handelsrouten werden, muss der Integrationsprozess behutsam vorangetrieben werden.

Es gibt jedoch Fortschritte: Dank kontinuierlicher Reformanstrengungen kletterte Indien im Ease of Doing Business Index der Weltbank zwischen 2014 und 2020 bei 190 Ländern vom 142. auf den 63. Platz. Die Politik scheint auf dem richtigen Weg zu sein: Die Regierung hat Handelskorridore eingerichtet, Lizenzierungsanforderungen reduziert und für die Initiative „Make in India“, mit der ausländische Investitionen für den produzierenden Sektor gewonnen werden sollen, heftig die Werbetrommel gerührt.

Handelsbeziehungen sollen ausgebaut werden

Nicht nur die politischen Rahmenbedingungen in Indien verändern sich, sondern auch die externen Handelsbeziehungen: Jüngste Spannungen mit dem Nachbarland China haben Indien dazu veranlasst, Beziehungen mit anderen, vor allem westlichen Ländern, zu intensivieren.

Und Indien mangelt es nicht an Handelspartnern: Die EU ist bereits heute mit einem Anteil von 14,36 Prozent (45 Milliarden rd. US-Dollar) das zweithäufigste Ziel indischer Exporte. Und die Exporte in die EU dürften künftig noch zunehmen. Bei einem bilateralen Gipfel im Mai 2021 wurden die Verhandlungen zwischen der EU und Indien über ein Freihandelsabkommen wieder aufgenommen. Nach einer Pause seit 2013 sollen in 2022 erneut offizielle Gespräche geführt werden. Indien zeigt hierbei Interesse an einem Early Harvest Programme – einem eingeschränkten Handelsprogramm, das auf ein kleines Spektrum an Dienstleistungen niedrigere Zölle gewährt. Ein umfassendes Abkommen wäre ein möglicher nächster Schritt.

Auch Großbritannien will seine Beziehungen zu Indien ausbauen und hält die Bereiche Pharmazie, Fintech, Chemie, Erdöl und Lebensmittel für besonders geeignet für eine Zusammenarbeit.

Darüber hinaus hat Indien seine Bereitschaft erklärt, sich an der – von China und anderen Staaten verfolgten – „Impfstoffdiplomatie“ zu beteiligen. So könnte Indien seinen starken Pharmasektor nutzen, um die Beziehungen zu Nachbarländern zu intensivieren und den Grundstein für künftige Handelsbeziehungen zu legen. Indien hat bereits COVID-19-Impfstoffe an Nachbarländer und eine Reihe strategischer Partnerländer im Indischen Ozean, Afrika sowie an weitere Staaten in Lateinamerika und in der Karibik gespendet.

Ohne Zweifel gibt es nach wie vor operative Hürden für alle internationalen Unternehmen, die in Indien investieren oder dort Handelspartner finden wollen. Doch die reformorientierte Wirtschaftsstrategie des Landes wird den Aufbau neuer Handelsbeziehungen künftig erleichtern. Angetrieben durch den robusten Dienstleistungssektor und wachsende Produktionskapazitäten zeigt das Wirtschaftswachstum des Landes keine Zeichen von Schwäche. So erwartet der IWF für dieses und das nächste Finanzjahr ein Wachstum von 9,0%, weltweit das höchste für eine große Volkswirtschaft. Langsam, aber sicher öffnet sich Indien dem Rest der Welt – internationale Unternehmen, die an Indiens Wachstum teilhaben wollen, werden eine gewisse Expertise benötigen, um sich im einzigartigen Geschäftsumfeld des Landes zurechtzufinden.

The Banker Podcast mit Peter Born – „Banking in Transition Episode 70: India’s pandemic economy“

Peter Born, Chief Representative in Mumbai für die Commerzbank, spricht mit Kimberley Long von The Banker darüber, wie Indien sein KMU-Segment durch die Pandemie unterstützt hat, und über die Entscheidung des Landes, nicht an der asiatisch-pazifischen RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership) teilzunehmen.

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